Wo der Mensch mehr zählt als die Krankheit

Das Jahr 2021 könnte das Jahr der Patienten werden. Seit Januar schafft die elektronische Patientenakte neue, transparente Schnittstellen zwischen Patienten und Leistungserbringern. Schon in den Monaten davor sorgte die Coronakrise für einen Schub in der Tele-Gesundheit: Sowohl Ärzte als auch Patienten haben Hemmschwellen abgebaut und die Vorteile der RemoteMedizin zu schätzen gelernt. Die Gelegenheit, auf Basis dieser Entwicklungen ein durch und durch patientenzentriertes Modell aufzubauen und zu etablieren, ist günstig.

Datum
23.09.2021

Themen
#Gesundheit

Autor:in
Thomas Hagemeijer

Vision einer patientenzentrierten Gesundheitsversorgung

Argumente für ein patientenzentriertes Modell

Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt und seine Bürger haben im Krankheitsfall Zugriff auf die beste medizinische Versorgung. Doch so gut das bestehende System ist, so sehr stößt es längst an seine Grenzen. Die Gesundheitskosten steigen jährlich um mehr als vier Prozent, 44 Prozent der Ärzte geben an, unter Burnout oder Depressionen zu leiden, auf Patientenseite sorgt die relative Trägheit des Systems immer wieder für Frustration — Befunde auf überholten Datenträgern, die immer wieder gleichen Fragen bei verschiedenen Leistungserbringern. Ein patientenzentriertes Modell könnte dazu beitragen, diese Herausforderungen zu bewältigen, indem es Patienten stärkt und Ärzte entlastet. Vor allem aber ermöglicht es eine datengesteuerte Gesundheitsversorgung, die dazu beiträgt, Erkrankungen zu verhindern, bevor sie auftreten. Ein Modell, das nicht die Erkrankung eines Menschen in den Vordergrund stellt, sondern den Menschen selbst, reduziert Gesundheitskosten.

Vision eines patientenzentrierten Modells

Ein patientenzentriertes Modell verändert die traditionellen Strukturen der Gesundheitsversorgung in vier Dimensionen:

 

1. Der Zeitpunkt: Das System muss vor der Erkrankung ansetzen

Es gibt vor allem monetäre Anreize, die kontraproduktiv wirken: Selbstständige ambulante Ärzte maximieren ihr Einkommen, indem sie möglichst viele kranke Patienten behandeln, anstatt Krankheiten frühzeitig zu verhindern. Ähnlich erhöhen auch Krankenhäuser ihre Einnahmen durch stationäre Aufenthalte.

Patientenzentriertes Modell: Hier sichert das Gesundheitssystem die Gesundheit langfristig und beugt Erkrankungen frühzeitig vor.

 

2. Der Ort: Die Behandlung im gewohnten Umfeld

Der Anteil der Videosprechstunden stieg von zwei Prozent vor der Pandemie auf rund 29 Prozent. Dennoch bleibt das Potenzial der häuslichen Gesundheitsversorgung durch die fehlende Interoperabilität zwischen traditionellen IT-Systemen und neuer digitaler Gesundheitstechnologie unerschlossen.

Patientenzentriertes Modell: Pflege findet häufiger zu Hause — im gewohnten Umfeld — statt, um Einrichtungen zu entlasten.

 

3. Die Versorgung findet nahtlos und integriert statt:

Interoperabilität ist die größte Herausforderung des Gesundheitswesens. In der ambulanten Versorgung werden von den Softwareherstellern nur teilweise interoperable Lösungen angeboten.

Patientenzentriertes Modell: Alle Informationen werden zwischen behandelnden Ärzten und Einrichtungen geteilt, um eine nahtlose Versorgung zu sichern und Silos zu überwinden.

 

4. Der Patient wird in die Entscheidungen einbezogen:

90 Prozent der Ärzte sagen, dass ihre Patienten durch Information aus dem Internet immer unsicherer werden, 67 Prozent finden den Umgang mit Patienten, die sich im Internet eigene Meinungen bilden, anstrengend. Das Verhältnis zwischen Patienten und Arzt verschiebt sich.

Patientenzentriertes Modell: Die Leistungserbringer arbeiten eng mit den Patienten zusammen und entscheiden gemeinsam über Behandlung und Therapie.

Was muss getan werden, um die Entwicklung der patientenzentrierten Versorgung weiter voranzutreiben?

Gesundheitsplattformen müssen zur zentralen Steuerung der integrierten Versorgung werden:

Grundlagen einer Patientenzentrierung entstehen über zentrale, integrierte Gesundheitsplattformen, die Verbraucher und Patienten mit allen Leistungserbringern im deutschen Gesundheitssystem verbinden.

Entwicklung eines neuen wertebasierten Narrativs

Für eine patientenzentrierte Versorgung braucht es Gesundheitsdaten. Um die von Skepsis dominierten Daten-Diskurse zu überwinden, braucht es ein Narrativ, dass den Menschen die Vorteile eines integrierten Systems vermittelt und Ängste abbaut — eine wertebasierte digitale Ordnung, die auf digitale Mündigkeit und wertekonforme Umsetzung setzt. Die Glaubwürdigkeit dieses Narrativs muss durch die entsprechende Infrastruktur untermauert werden: Daten müssen dafür in Europa gespeichert werden, nicht auf Servern im Silicon Valley.

Was bedeutet das für Ärzte und Krankenhäuser?

Jedes Krankenhaus sollte alle Beteiligten an einen Tisch bringen, um zu definieren, wie die ideale Patientenversorgung über alle Berührungspunkte und Phasen hinweg aussehen kann. Auch die ambulanten Ärzte und die Kassen in der Fläche sollten mit einbezogen werden, um ein wirklich integriertes System aufzubauen. Ein erster Schritt für jeden Arzt ist die einstündige Schulung des BAS.

Das Jahr 2021 ist ein Stresstest für das deutsche Gesundheitssystem, das aber auch Chancen bereit hält: Nun kann alle Beteiligten beweisen, dass sie in der Lage sind, ein Modell zu etablieren, das nicht die Erkrankung, sondern den Menschen selbst in den Vordergrund stellt.

 

Thomas Hagemeijer ist Health Lead bei TLGG Consulting