Abwrackprämie: Starkes Signal in die falsche Richtung

Datum
26.05.2020

Autor:in
Christoph Bornschein

Die Krise hat die deutsche Automobilindustrie im Griff. Der Verband der Automobilindustrie zeigt einen massiven Rückgang in allen wichtigen Bereichen an. So lag in den ersten vier Monaten des Jahres der Auftragseingang 25 Prozent unter Vorjahresniveau, die Produktion 38 Prozent darunter, der Export ebenfalls. Im April stellten die deutschen Automobilhersteller ihre Produktion praktisch ein.

Nach einem solchen Einbruch fährt eine so tief mit der Gesamtwirtschaft verflochtene Industrie nicht einfach wieder hoch. Die Rehabilitation ist langwierig, Hilfe ist willkommen, alles schaut auf den Staat. Für den deutschen Staat wiederum ist die Sache gelegentlich ganz einfach: Ist die Wirtschaft am Boden, bekommt die Schlüsselindustrie Starthilfe, indem der Absatz ankurbelt wird. Das war schon 2009, im Nachgang der Finanzkrise, wesentlicher Teil des Konjunkturpakets II. Die Abwrackprämie bescherte der Industrie damals ein Rekordjahr, Anfang Juni wird die Bundesregierung die Neuauflage diskutieren.

Der Konjunkturanschub sollte
die Zukunft im Blick haben

Dieser Tage bietet sich die 2009 leider verpasste Gelegenheit, mit einem Corona-Konjunkturpaket Paket neue Schwerpunkte zu setzen, statt nur den gestrigen Status Quo wiederzubeleben. Das sieht selbst der immerhin zweitgrößte deutsche Automobilclub ACE so. Im Bündnis mit verschiedenen Mobilitätsstakeholder:innen ruft er zur Unterstützung ganzheitlicher Mobilität auf, statt auf eine automobilfokussierte Kauf- oder Abwrackprämie zu setzen — E-Autos, Fahrräder, E-Bikes, ÖPNV und Bahn-Abos eingeschlossen.

Das ist nicht nur mit Blick auf Klimaziele und Verkehrswendeansprüche ein mindestens diskutabler Vorschlag. Auch mit Blick auf den Markt, den Handel, die tatsächliche angestrebte Transaktion wäre eine reine Automobilprämie eine Investition ins Gestern. Die traditionelle Bedeutung der Industrie als Ganzes — ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt, die Zahl der Beschäftigten, der gewaltige Beitrag zum deutschen Exportüberschuss — hat lange den Blick darauf verstellt, dass der klassische Autohandel eben vor allem klassisch ist, ein bis heute kaum aktualisiertes Relikt einer guten alten Zeit.

Der Trend geht gegen den
stationären Autohandel

Dass Coronavirus und Lockdown dem sowieso starken Trend zum E-Commerce noch einmal Feuer gegeben haben, ist nur die aktuellste Entwicklung wider den stationären Handel. Abnehmer:innen für Neuwagen sind in zunehmendem Maße sowieso Firmen. Der:die Privatkund:in wird immer älter, ist heute im Schnitt 48 Jahre alt und immer seltener Wiederholungstäter:in. Das Zubehörgeschäft bricht weg, der Klimawandel macht den Winterreifenwechsel überflüssig, und der attraktiver werdende Markt für Elektroautos — selbst im Lockdown-April übrigens noch ein wachsendes Segment — entwickelt sich zur Direct-to-Consumer-Opportunität für die Hersteller:innen. Der attraktive Innenstadtstandort ist obendrein immer seltener eine Option: Die teure Ausstellungsfläche lässt sich einfach nicht in Transaktionen umrechnen.

 

Der Handel konsolidiert sich,
die Marken erstarken

Die zunehmend an Einfluss verlierende Plattform Automobilhandel nun zum Motor eines Konjunkturanschubs zu machen, wäre ein starkes Signal in eine falsche Richtung. Es wäre fast vergleichbar absurd, wie die Forderung, in Zeiten des Lockdowns als erstes die Autohäuser zu öffnen. „Wir gehen zurück zur Normalität“, sagt es, doch speziell im Autohaus gibt es diese Normalität kaum noch. Die Disruption des Handels ist auch in diesem Markt längst im vollen Gang. Sie führt zunächst zur Konsolidierung an der Branchenspitze, dann zu starken Handelsmarken mit herstellerübergreifenden Dienstleistungen. Die überfällige Entkopplung von Neuwagenhandel und Werkstatt findet ebenfalls bereits statt. In der Innenstadt lädt der überschaubar große, attraktive Showroom dazu ein, wenige Standardvariationen zu begutachten; in den Randgebieten mit günstigen Mieten werden Service und Reparatur angeboten.

Optionsvielfalt wird immer mehr zum Verkaufshemmer

Möglich wird die Entwicklung auch durch eine Normalisierung des Handelsguts Auto. Kaum ein Automobilmarkt setzt so sehr auf Built-to-Order wie Deutschland — jeder:jedem seine ganz individuelle Ausstattung, seinen auf 20 verschachtelten Ebenen konfigurierbaren Neuwagen. Der tatsächliche kommerzielle Wert dieser lähmenden Optionsvielfalt darf bestritten werden. Die Online-Ausprägung des Individualisierungskonzeptes, der Car Configurator auf der Herstellerseite, ist ein tolles, technisch anspruchsvolles Spielzeug — ein Conversion Tool ist er jedoch ebenso wenig wie sein menschliches Pendant, das im Bemühen um Kund:innennähe die Ausstattungsmöglichkeiten herunterbetet. Die Antwort heißt hier, wie auf allen Märkten, Standardisierung: Pakete statt Parameter, „Basic, Standard, Supergeil“ als Maximum an Ausstattungsvariation.

Für den physisch präsenten Handel bedeuten die Entwicklungen vor allem Reduktion, Integration, Kooperation, Konsolidierung. Nur in einem starken Verbund können zum einen Ladengeschäft und Onlinegeschäft integriert werden, kann zum anderen die Händler:innenposition gegenüber den Hersteller:innen verbessert werden. All dies sind Entwicklungen, die auf anderen Märkten von Elektronik bis Lebensmittel längst sichtbar sind. Es ist an der Zeit, sich auch in der Branche auf Rädern dafür aufzustellen.

Der Autokauf hat seinen Zauber verloren

Die gute Nachricht in der Misere: Die fortschreitende Konzentration wird den Händler:innenmarkt besser für den kommenden Umbruch aufstellen. Denn was kommt nach der Standardisierung in wirtschaftlich unsicheren Zeiten? Die Ablösung des Autokaufs durch Auto-as-a-Service, das Auto-Abo. Dafür muss man gar nicht weit in die Zukunft blicken. Care by Volvo ist das Abomodell mit Familienfokus, Premiumhersteller wie Porsche oder Cadillac testen auf verschiedenen Märkten eigene Angebote. Auch dies wird letztlich durch Krisen wie die derzeit drohende Rezession eher noch befeuert. Warum schließlich sollte für Privatnutzer:innen nicht gelten, was in volatilen Zeiten in allen Industrien bevorzugt wird? Niedrige Kapitalbindung ist sinnvoll, erst recht bei Kapital, das ein Drittel seines Wertes in dem Moment verliert, in dem es vom Hof des:der Händler:in fährt.

Jede Disruption schafft neue Möglichkeiten

Ein Abomodell bietet nicht nur in Krisenzeiten das Gefühl, mit überschaubaren Summen handeln zu können. Es initialisiert außerdem ein engeres Kund:innenverhältnis — per Definition, praktisch serienmäßig. Zusätzliche Leistungen, Service-Pakete, Upselling-Möglichkeiten, Kund:innenpflege sind Bestandteile eines klugen As-a-service-Konzepts. So entsteht eine sehr viel organischere Kund:innenbindung als durch das traditionelle, künstliche, auf eine konstruierte Drohkulisse setzende Modell der Scheckheftpflege.

Es ist ein immer gleiches Motiv des digitalen Wandels, dass neue Herausforderungen auch neue Möglichkeiten bieten. Disruption verändert die Märkte, sie fegt sie nicht zwangsläufig weg. Wer die Möglichkeiten jedoch nutzen will, muss die Entwicklungen im Blick und gleichzeitig den Mut haben, auf sie zu reagieren. Die derzeit recht wahrscheinliche Berufung zu Schlüsselfiguren des Corona-Konjunkturpakets darf den Händler:innen gern eine Ehre sein. Es liegt an ihnen, dafür zu sorgen, dass es nicht die letzte ist.

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Über Christoph Bornschein
Christoph Bornschein ist Gründer und Geschäftsführer von TLGG, der Agentur für Digital Business, ebenso wie Geschäftsführer der seit 2018 ausgegründeten TLGG Consulting GmbH.
Der gebürtige Berliner und sein Team beraten internationale Unternehmen bei der strategischen Nutzung sozialer und digitaler Technologien. Christoph Bornschein ist Autor zahlreicher Fachbeiträge zu den Themen des digitalen Wandels sowie Kolumnist im Manager Magazin. Als gefragter Referent auf Konferenzen und Kongressen setzt er neue Impulse zum Thema Digitalisierung.