Der Kampf um die Kund:innen
Neben all der Belastung, die wir durch Corona seit Monaten erleben: Die Pandemie-Maßnahmen haben auch zu einer beschleunigten Adaption und Normalisierung digitaler Prozesse geführt und damit Chancen und Perspektiven eröffnet — auch im Einzelhandel.
Das Konsum- und Shoppingverhalten hat sich in der Pandemie (gezwungenermaßen) verändert, geschlossene oder nur mit starken Einschränkungen operiere Läden haben das Geschäft ins Netz verlagert. Eine Rückkehr zur alten “Normalität“ wird es wohl auch danach nicht geben.
Datum
05.02.2021
Autor:in
Max Orgeldinger
Digitale Konkurrenz auf Kund:innenfang
Nun zeigt sich, wer frühzeitig auf digitale Vertriebs- und Marketingkanäle gesetzt und sich besser als die etablierte Konkurrenz positioniert hat. Start-ups und Direct-to-Consumer-Anbieter:innen verstehen es, Aufmerksamkeit für ihre Produkte zu erzeugen und interessierte Besucher:innen mit geschickter Funnel-Strategie zu zahlenden Kund:innen zu machen. Damit greifen sie quer durch alle Branchen die Platzhirsche an und machen ihnen die Hoheit über ihre Nischen streitig.
Die Kampfansage geht dabei sowohl an traditionelle Marken als auch an den etablierten Einzelhandel als Schnittstelle zum:zur Kund:in. Es geht kaum um bessere Produkte und Marken oder langfristige Kund:innenbindung, sondern um die Generierung von Leads und deren Abschluss. Klassische Retailer sind zwar gut darin, die Regale zu füllen, doch der direkte Weg zum:zur Kund:in ist für sie oft eine Blackbox. Hier haben die Start-ups ihre Chance entdeckt.
Start-ups und traditionelle Unternehmen müssen voneinander lernen
Doch der Fokus auf Lead und Abschluss der jungen digitalen Player hat seinen Preis. Fehlende Modelle für eine langfristige Kund:innenbetreuung stehen hohen Investment-Summen in Performance-Marketing, Sales und Markenaufbau gegenüber. Die Firmen lagern ihre Customer-Care-Center häufig aus — und die negativen Kund:innenerfahrungen nach Kaufabschluss schlagen sich in Bewertungsportalen nieder. Zudem fehlt es vielen an einem stabilen Unterbau bei der Produktion, die vor allem in der Anfangsphase häufig an Drittanbieter ausgelagert wird. Bei allen Marketingvorteilen gelingt es ihnen deshalb selten, in die schwarzen Zahlen zu kommen: Blinde Flecken entlang der Wertschöpfungskette schmälern das Geschäftsergebnis.
Beide Schwachstellen bieten traditionellen Unternehmen die Chance, bewährte Stärken — über Jahre aufgebaute enge Kund:innenverhältnisse, ausgereifte Produktion und eine verlässliche Logistik — zu nutzen. Verbunden mit digitalen Lösungen bietet sich die Chance, die eigene Position zu festigen. Doch oft fehlt es an Mut und Willen, bestehende Lücken zu schließen.
Traditionelle Marken können den
digitalen Raum erobern
Dabei gibt es einfache Wege, mit denen sich die traditionellen Unternehmen neu positionieren können, etwa eine verbesserten Zielgruppen- und Kund:innenanalyse, solide Brand-Performance-Konzepte oder die Integration der Kund:innen-Touchpoints in die Strategie. Corona sollte als Weckruf erkannt werden, die digitalen Fähigkeiten auszubauen, ihre Marketing-Teams endlich fest im digitalen Raum zu etablieren und mit dem Kund:innenservice zu verzahnen.
Die Schritte sind nötig, um sich auf eine veränderte Welt vorzubereiten. Die Grenzen zwischen Produkt, Marke und Vertrieb verschwimmen zunehmend, die Kanallandschaft wird immer dynamischer und komplexer, Kund:innen erwarten einen fließenden Übergang zwischen Offline und Online. In diesem Umfeld können Welten zusammenkommen, die vermeintlich nicht zusammengehören, sich aber bestens ergänzen.
Digitale Fähigkeiten lassen sich einkaufen
Dafür müssen Legacy-Unternehmen sich auch für neue, starke Partner:innen etwa im Venture-Capital-Geschäft öffnen. Während die einen das Know-how in Sachen Produktion und Kund:innenbetreuung mitbringen, verstehen sich die anderen darin, Marketing-Strategien zu entwickeln und Unternehmen auf- und auszubauen sowie neue Geschäftsfelder und Märkte zu erschließen. Ähnliche Effekte lassen sich auch erreichen, wenn Unternehmen in Start-ups investieren, die das nötige Know-how mitbringen. Fast jede digitale Fähigkeit lässt sich heute auf dem Markt einkaufen.
Eine Alternative: selber machen und eine eigene Einheit für die Generierung neuer Leads und Kund:innen aufbauen. Wichtig ist dabei, dass die Einheit unabhängig von der Organisation operieren kann — im Zweifel auch an einem anderen Standort. Nur so lassen sich Fähigkeiten und Talente entwickeln und gewinnen, die in einer traditionellen Konzernlandschaft keinen Platz finden.
Ein deutscher „best-of-both-worlds“-Case
Ein Positivbeispiel für die funktionierende Synergie zwischen traditionellem Handel und neuen Vertriebswegen ist der Fashion-Internethändler About You. Mit Sitz in Hamburg wurde About You 2014 als Tochtergesellschaft von Otto gegründet und ist heute in insgesamt 11 Ländern aktiv. Seit der Gründung arbeitet About You mit Influencer:innen zusammen und verkauft neben Fremd- auch Eigenmarken. 2018 gehörte About You in Deutschland zu den fünf umsatzstärksten Onlinehändlern im Segment Bekleidung. Mit der Tochter konnte der Otto-Konzern die jahrelange Erfahrung in Logistik und Warenwirtschaft mit neuer Marketing-Expertise zum Erfolgsrezept verbinden.
Allerdings darf der neue Fokus auf Marketing und Digital-Vertrieb nicht dazu führen, dass nebenbei unbemerkt neue blinde Flecken entstehen. Die Unternehmen tun gut daran, auch in Produktion und Logistik schon jetzt die nächste Phase der Digitalisierung einzuläuten. Wer hier auf die Unterstützung von Künstlicher Intelligenz, Prognose-Tools und Echtzeit-getriebenen Warenwirtschaftssystemen setzt, der ist in der Lage, auf die nächste Krise — und auch den nächsten Aufschwung — frühzeitig zu reagieren.
Max Orgeldinger ist Managing Lead bei TLGG Consulting