Polarisierte Prokrastination: Wie überspitzte Diskussionsmuster eine Debatte um die digitale Gesundheitsversorgung lähmen

Die Zähigkeit der Bemühungen um eine Corona-Tracing-App macht es einmal mehr deutlich: In der Diskussion um Gesundheitsdaten steht hierzulande stets Dystopie gegen Utopie, Mensch gegen Maschine. Dazwischen gibt es wenig bis nichts, Nuancen werden eher als störend empfunden. Doch die krude Gegenüberstellung extremer Szenarien ignoriert Realitäten und verdunkelt Potenziale: Gesundheitsdaten werden längst erfasst und verarbeitet. Sie helfen nur unserem Gesundheitswesen nicht. Es ist Zeit, dass die Politik ihre Verantwortung wahrnimmt.

Datum
27.04.2020

Themen
#Gesundheit

Autor:in
Mona Sloane und Christoph Bornschein

Das deutsche Gesundheitssystem ist komplex und hochstatisch, das Zusammenspiel seiner Teilhaber:innen mutet fast planwirtschaftlich an. Die viel beschworene digitale Transformation, sie findet bislang kaum statt. In dieser Situation ist der im November 2019 vom Bundestag verabschiedete und vom Bundesrat gebilligte Entwurf des Digitale-Versorgung-Gesetzes ein Versuch, den deutschen Gesundheitsmonolithen wandlungsfähig zu machen. Vor allem in Bezug auf die elektronische Patient:innenakte geht das Gesetz dabei manchen Kritiker:innen zu weit ­– Datenschützer:innen sehen die Privatsphäre und Transparenzgrundsätze verletzt und die ärztliche Schweigepflicht aufgeweicht. Anderen geht es nicht weit genug. So klagte Bitkom-Präsident Achim Berg, das wirtschaftliche Potenzial der Datenauswertung sei nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Diskussion um die Sammlung, Aufbereitung und Nutzung persönlicher Daten folgt in Deutschland stets diesen etabliert polarisierten Mustern: Der dystopischen Erzählung einer von Staat und Industrie überwachten, vollständig gläsernen Bevölkerung steht das digitale Heilsversprechen einer gebildeten, rundum gesunden, produktiv und komfortabel lebenden Wohlstandsgesellschaft gegenüber: 100 Prozent Technik oder 100 Prozent Gesellschaft. Der Diskurs über den digitalen Wandel folgt dieser Polarisierung und findet daher nur halbgare, letztlich fruchtlose Kompromisse. Die Teilnehmer:innen des öffentlichen Diskurses haben keine Routine darin, realistisch und pragmatisch im Sinne unserer Grundwerte zu diskutieren. Die Polarisierung führt zu Skepsis, die fruchtlose Kompromisssuche zu Innovationsträgheit.

Nuancierter Realismus als Grundvoraussetzung für den Diskurs

Wer diese Starre aufbrechen will, muss Graustufen zulassen und den produktiven Dialog fordern. Gerade in der Frage der Sammlung und Verarbeitung von Patient:innendaten ist dies nötig: An keinem anderen Datensatz wird sich in ähnlich grundsätzlichem Maße entscheiden, ob wir es schaffen, Technologie und Menschlichkeit zu vereinen und eine realistische und produktive Vision sozio-technischer Systeme zu entwickeln.

Eine im September 2019 veröffentlichte Studie der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet sieht schon heute „die diagnostische Leistung von Deep-Learning-Modellen der von Fachmedizinern gleichwertig“. Zugleich jedoch forderten die Forscher:innen mehr Sorgfalt in der Erforschung dieser „vielversprechenden Technologie“.

Aktuell unterstreichen der global-mediale Blick auf COVID-19, die Erforschung des Virus und die Nachverfolgung der Infektionsketten die Bedeutung, die Datenerhebung und Datenkorrelation für die Sicherheit der Bevölkerung haben kann. Schon im Februar beschrieb The Lancet Untersuchungen der WHO dazu, ob und wie Machine-Learning-Modelle die Entwicklung von Impfstoffen und die Vorhersage zukünftiger Ausbrüche voranbringen können. Potenziale sind vorhanden, doch David Heymann, Direktor der Abteilung für übertragbare Krankheiten der WHO, bleibt nüchtern: „Aktuell lässt sich weder das menschliche Gehirn noch der Epidemiologe oder Virologe durch etwas ersetzen, das zu Beginn eines Ausbruchs Analysen anstellen und die notwendigen Maßnahmen ergreifen könnte.“

Graustufen als Störfaktor

Formulierte Bedarfe, der realistische Blick auf die Möglichkeiten und die Frage nach dem Preis medizinischer Fortschritte –­ dies sind die Nuancen, die der Diskussion ganz grundsätzlich fehlen, und deren Auftauchen immer wieder zu lähmender Überforderung führt. Das unterstreicht auch das aktuelle Ringen um eine Corona-Tracing-App. Für die datenschutz- und grundwertadäquate Entwicklung einer solchen App hatte etwa der Chaos Computer Club schon sehr früh eine kluge Liste von Prüfsteinen erstellt. In der praktischen Umsetzung und Zertifizierung spielten diese jedoch kaum eine Rolle. Stattdessen wird eine zunächst sinnvoll wirkende Idee nun offenbar zwischen alten Seilschaften, schnellen Machbarkeitsstudien, Architekturkonzepten, politischer Profilierung und starrer Datenschutz-Compliance zerrieben.

 

Deutschland muss seine
Verantwortung wahrnehmen

Mit einer Bruttowertschöpfung von 369,8 Milliarden Euro (Stand 2018) ist den deutschen Gesundheitsmarkt der größte Europas. Die deutschen Gesundheitsausgaben wuchsen seit 2010 jährlich um 4,1 Prozent – bei einem durchschnittlichen BIP-Wachstum um 1,6 Prozent und einem seit einer Dekade um Null pendelnden Bevölkerungswachstum. Angesichts dieser Zahlen wird deutlich, dass deutsche Projekte Signalwirkungen über die Landesgrenzen hinaus hätten, politisch wie privatwirtschaftlich. Dass die Entscheidung, wie Gesundheitsdaten gesammelt und verarbeitet werden, noch immer verschleppt wird, kommt einer Zurückweisung von Verantwortung gleich. Es wird Zeit, Politik, Regulatorik, staatliche Institutionen sowie das Zusammenspiel von Gesellschaft, Technologie und Märkten aktiv zu gestalten.

Vor dem Hintergrund einer aktiven Gestaltung ergeben dann auch datenschutzbezogene Bedenken Sinn. Zum einen sind digitale Systeme angreifbar, sodass sich Fragen der Datensicherheit immer unbedingt stellen. Zum anderen hat der digitale deutsche Staat durch Ignoranz, Nichthandeln und gravierende Fehler in den vergangenen Jahren viel Bürger:innenvertrauen verspielt.

Dazu kommt: Die umfassende Datenverarbeitung — intelligent, transparent, juristisch geregelt — ist in Europa im Moment nicht konsensfähig. Dass sich dies ohne konzentriert konstruktive Anstrengungen ändert, ist nicht zu erwarten. Weitaus schneller als jeder Konsens entwickelt sich jedoch längst schon der unregulierte Markt, vor dem die Dystopisten warnen.

Marktrealitäten fordern Reaktionen
– von der Politik

Dass die Entwicklung von Technologien und Märkten nicht auf die Politik wartet, hat sich oft genug industrieübergreifend gezeigt, um auch für den Gesundheitssektor eine klare Marktprognose abzugeben. Die CareKit-Entwicklung von Apple, das Vordringen von Doctolib in den Praxisalltag, die Versandapotheken-Ambitionen von Amazon, Wellness-Apps und Fitness-Tracking, das Googlen von Symptomen: Gesundheitsdaten werden längst gesammelt und verarbeitet – zentralisiert, privatwirtschaftlich, nichteuropäisch. Sie bringen nur unserer Forschung und unserem Gesundheitswesen nichts.

Die Karten liegen auf dem Tisch: Wesentliche Voraussetzung für ein digitales Gesundheitssystem, das den Namen verdient, ist eine dezentrale staatliche Infrastruktur für verschlüsselte und anonymisierte Daten. Bahnbrechende Innovationen entstehen überdies dort, wo der Staat selbst kräftig investiert, direkt oder indirekt. Die kommerzielle Nutzung dann braucht Kontrolle, Grenzen und Regulierung.

Data-Commons-Modelle und
Kontrollinstanzen als Taktgeber

So lässt sich etwa die Monopolisierung und Kommerzialisierung der Daten, wie sie vor allem Amazon längst praktiziert, durch Data-Commons-Modelle aufbrechen. So werden vollständig anonymisierte Daten disziplin- und sektorenübergreifend verfügbar gemacht. Unabhängige Data Broker oder Clearing-Stellen, die Datenhaltung und Datentransfer kontrollieren, schaffen dafür Vertrauen und Transparenz in der Bevölkerung. 
In Zeiten der Pandemie und der Suche nach Auswegen gilt es dabei, allzu naheliegende Versprechungen zu vermeiden. Augenmaß und Vorsicht, Achtung der Grundrechte und Vermeidung von Populismen können nur in der konstruktiven und öffentlich sichtbaren Zusammenarbeit von Technologieforschung, Soziologie und Politik gelingen. dann könnte das dringend benötigte Fortschrittsnarrativ entstehen, das Utopien eine begründete Skepsis und Dystopien einen begründeten Optimismus entgegensetzt.